Schulwechsel durch Training im Stützpunkt

Meine beiden Töchter schwimmen im Verein. Um Schule und Training im Stützpunkt unter einen Hut zu bringen, müsste unsere 12jährige Tochter auf eine Stadtteilschule wechseln. Ist das nicht mit zu viel Stress verbunden? Welche Fördermaßstäbe zählen bei der 7jährigen?

Liebe Frau P., Ihre Sorge teilen viele Schwimmereltern. Das Problem ist, dass “dank” der föderalen Struktur viele Dinge von den Ländern unterschiedlich geregelt werden. Bei Ihrer älteren Tochter sollten vor allem zwei Fragen beantwortet werden: 1. Hat sie Talent und 2. hat sie Lust? Schon Nr. 1 ist sehr schwer zu entscheiden, da dies maßgeblich von der biologischen Entwicklung und dem bisherigen Trainingsaufwand bestimmt wird, will heißen, allein Beste zu sein, ist in dem Alter noch kein unmittelbares Zeichen von Talent. “Lust” (Motivation usw.) ist sehr von den Umständen abhängig und ein Gradmesser, wie die zunehmenden Belastungen verkraftet werden. Sollte Ihre Tochter talentiert sein, dann benötigt sie für die erforderliche zunehmende Belastung Trainingsumfänge, die die meisten Vereine nicht gewähren können. Deshalb wurden die Stützpunkte eingerichtet.
Viele Dinge, die uns zunächst negativ erscheinen, können aber auch von Vorteil sein. So erzieht der Zeitdruck frühzeitig zu einer rationellen Tagesgestaltung und einem effektiven Umgang mit dem Faktor Zeit. Dazu zählt auch, jede Situation zum Lernen zu nutzen.
Was den Tagesablauf anbelangt, so gibt es bestimmt bessere Lösungen im Sinne eines ausgewogenen Verhältnisses von Belastung und Erholung. Aber das ist die Theorie. Die Praxis sieht ebenso aus, dass sich Ihr Verein freuen kann, wenn er nachmittags Zeiten in der Schwimmhalle bekommt. Da (durch G8 z.B.) immer mehr Schulen Unterricht auf Nachmittage verlegen, ist der unmittelbare Übergang von der Schule zum Training nicht zu vermeiden und letztlich auch nicht so tragisch, da sich geistige und körperliche Beanspruchung abwechseln (wobei auch im Training gedacht werden darf…). Was würden Sie sagen, wenn dafür das Training abends stattfindet und Ihre Tochter nach 20.00 Uhr die “Heimreise” antreten müsste?

Bei einer 7-Jährigen würde ich erst einmal das Schwimmen aus Spaß (einschließlich Freude am Wettstreit) im Vordergrund sehen und noch nicht die Familie mit Leistungssportkarrieren belasten. Das kann in diesem Alter noch keiner verantwortungsvoll aussagen und Gurus sollte man das Feld nicht überlassen. Aber auch nicht allein Ihrer Tochter. Sie sind als Mutter für die sittliche, geistige und seelische Entwicklung Ihres Kindes zuständig, haben dabei aber wachsende Fähigkeiten und Bedürfnisse Ihrer Tochter zu selbstständigem und verantwortungsbewusstem Handeln zu berücksichtigen, also Einvernehmen entsprechend des Entwicklungsstandes.

Die Rechtsprechung betrachtet zwar den Kindeswille als Ausdruck des subjektiven Kindesinteresses, ordnet ihn aber dem Entscheidungsmaßstab Kindeswohl unter. Kurz und gut: Kinder können sich in dem Alter an Dingen begeistern, die ihrer weiteren Entwicklung nicht unbedingt dienlich sein müssen. Sie können und müssen hier mit Ihrer größeren Lebenserfahrung entscheiden. Will sagen: Auf die Tochter hören, aber nicht unbegrenzt folgen, alles andere ist Sache von Psychologie und Erziehung. Manches Kind in dem Alter lehnt eine “Spritze” ab, aber Sie kennen die gesundheitlichen Risiken und damit die Notwendigkeit der Injektion besser. Kein Viertklässler kann sich ein Bild machen, was ihn in weiterführenden Schulsystemen erwartet. Und trotzdem sollte die Zustimmung des Kindes eingeholt werden, wann immer dies möglich ist. Ihre jüngere Tochter wird kleinere Zeitabschnitte auf Grund ihrer bisherigen Erfahrung (Training, Tagesablauf…) besser werten und darüber entscheiden können als über längerfristige wie eine Leistungssportkarriere. Deshalb überfordern hier Entscheidungen über mehrere Jahre Kind und Eltern, während Ihre Ältere auf das Ende des Aufbautrainings (in der Regel 13/14 Jahre bei Schwimmerinnen) zugeht. Hier muss der Familienrat zu klaren Folgerungen kommen. Aber nicht allein, holen Sie den Rat von Experten ein (Trainer, Klassenlehrer). Letztlich sollte Ihre Tochter talentiert sein, dann sind Sie auch im Interesse des Kindeswohls verpflichtet, dieses Talent zu fördern (ob musisch, naturwissenschaftlich oder sportlich).

Ergänzend ein Auszug aus dem Handbuch Familienrecht (Oelkers, 4. Rz 172):

„Der Mensch wird nicht mit der Fähigkeit geboren, sich eigenverantwortlich zu entscheiden. Vielmehr nimmt die Beachtlichkeit des Kindeswillens erst im Verlauf des Reifungsprozesses zu. Dabei ist stets zu prüfen, ob der vom Kind geäußerte Wille stabil ist und sich objektiv mit seinem Wohl vereinbaren lässt…Dann ist der Wille beachtlich“.

Tipps zum Schulwechsel nach dem personzentrierten Ansatz von Carl Rogers[1]:

  • Im Gespräch zu Fragen der weiteren Schullaufbahn das Kind in seiner Eigenart und mit seiner besonderen Persönlichkeit wahrnehmen, verstehen und respektieren. Elterliche Macht zurückhaltend einsetzen, dabei das Kind kompetent beraten und bewusst lenken. Dies setzt natürlich voraus, dass sich Eltern auf den Informationsveranstaltungen der Schulen, bei den Lehrkräften und ggf. den Schulleiterinnen und Schulleitern ausreichend informieren.
  • Können und wollen die Eltern ihrem Kind beim Besuch einer weiterführenden Schule die Unterstützung geben, die es braucht, z.B. durch häusliche Unterstützung, ggf. zeitlich begrenzte Nachhilfe, Elternmitarbeit in der Schule, Fahrten ihres Kindes zur Schule etc.?
  • Schule ist wichtig, sollte im Leben des Kindes jedoch nicht übermächtig werden.
  • Entscheidungen sollten von Eltern bewusst getroffen, getragen und vertreten werden – auch bei Anfangsschwierigkeiten. Diese können oft überwunden werden.
  • Spielen gehört notwendigerweise zur Kindheit und kann nicht nachgeholt werden. Das Kind benötigt daher Zeit zum Lernen und Zeit zum Spielen. Welche Schulform lässt dies zu oder fördert es sogar?
  • Ohne positives Selbstwertgefühl und positive Selbstachtung entwickelt das Kind keine anhaltende Lernmotivation. Was traut das Kind sich selbst zu? Was trauen die Eltern dem Kind zu und was die Lehrer?
  • Welche Lernvoraussetzungen bringt der einzelne Schüler bzw. die einzelne Schülerin mit: Intelligenz, Fähigkeiten und Fertigkeiten, Anstrengungsbereitschaft und Ehrgeiz, Unlust, Ängstlichkeit etc. Wichtig ist auch die Qualität der Eltern-Kind-Beziehung und die Geschwistersituation.
  • Weniger kann mehr sein. Das nächste Etappenziel sollte ein möglichst guter Abschluss für alle Schüler sein, auf dem eine weiterführende Schullaufbahn aufgebaut werden kann.
  • Überdurchschnittlich viele Kinder wechseln von der Grundschule aufs Gymnasium. Viele Kinder müssen aber nach der Förderstufe wieder die Schule wechseln. Wo das vorher absehbar ist, sollte den Kindern diese zwei Jahre der Überforderung und Frustration erspart werden.

[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Personzentrierter_Ansatz_%28Psychotherapie%29

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