Sie kennen das Bild bei Wettkämpfen: in jeder freien Ecke sitzen Schwimmer und dehnen. Was und wie bleibt oft ein Rätsel. Denn man muss diese Art der Wettkampfvorbereitung sehr differenziert sehen. Überhaupt ranken sich um Dehnen und Stretching zahlreiche Mythen, die durch die Wissenschaft teilweise widerlegt wurden. Doch der Reihe nach:
Als ich noch ein junger Leistungsschwimmer war dominierten Intervallserien und damit Kreislauftraining sowie Kraftübungen das Training. Die Beweglichkeit spielte eine untergeordnete Rolle. Charakteristisch waren Übungen mit Nachfedern zur Vergrößerung der Bewegungsweite. Danach wurde das statische Dehnen (Stretching) propagiert, um die Auslösung eines so genannten Dehnungsreflexes zu verhindern. Eine typische Methode war die „Postisometrische Relaxation“, indem der Muskel 10-30 Sekunden angespannt und danach entspannt und bis 30 Sekunden gedehnt wurde. Inzwischen war das dynamische Dehnen sogar als „Zerrtraining“ wegen befürchteter Verletzungsgefahr geächtet. Erst molekularbiologische Untersuchungen führten Dehneffekte auf Strukturelemente in den Muskelfasern (Titinfilamente) zurück. Das Hick-Hack der letzten 30 Jahre kommentiert vielleicht am besten Prof. Freiwald, der sich wie kaum ein anderer mit dieser Problematik beschäftigt hat:
„Richtig Dehnen gibt es im Prinzip gar nicht, zumindest kein absolutes Richtig oder Falsch im Streit der Methoden, jede kommt zu ihrem Recht – das ist nur eine Frage des Ziels“.
Versuchen wir trotzdem, den aktuellen Erkenntnisstand zusammenzufassen:
- In der Trainingspraxis hat sowohl statisches als auch dynamisches Dehnen seinen Platz.
- Wegen der Bedeutung der sensorischen Rückmeldung ist das Eigendehnen (aktiv) wirksamer als Fremddehnen (passiv).
- Die Studien zur Dehnung im Sinne der Verletzungsprophylaxe sind widersprüchlich. Positive Effekte wurden für das gesamte funktionelle System beschrieben (Klee, 2006).
- Eine Muskelverlängerung durch Dehnen scheint nicht möglich zu sein.
- Dehnen kann Muskelkater nicht vermeiden.
- Intensives statisches Dehnen vor Schnellkraftbelastungen zeitigt negative Effekte.
- Zur Beseitigung muskulärer Dysbalancen sollten die Antagonisten gekräftigt werden, da eine Dehnung des verkürzten Muskels wirkungslos ist.
- Es konnten keine Vorteile bestimmter Dehnungstechniken wissenschaftlich belegt werden.
- Muskuläre Regeneration wird durch passives Dehnen eher behindert als gefördert.
- Beweglichkeitsgewinn setzt langfristiges und regelmäßiges Üben voraus.
Beweglichkeitstraining ist immer als Einheit von Dehnung und Kräftigung zu verstehen. Da sich im Kindesalter die bei einem Beweglichkeitstraining beanspruchten Muskeln und Bänder durch einen hohen Wassergehalt und die Knochen durch einen geringen Mineralisierungsgrad auszeichnen, sollte der Bewegungsapparat vor allem durch Kräftigung stabilisiert werden. Die im Schwimmen notwendige Bewegungsweite in vielen Gelenken wird vor allem durch die Kraft der Antagonisten erreicht. Wenn sich auch einige Hoffnungen und Vermutungen in Verbindung mit Dehnen/Stretching nicht bewahrheitet haben, so bleibt es uneingeschränkt ein wichtiger Bestandteil in der Technikvervollkommnung des Schwimmers (Schultergürtel, Fußgelenke). Hinweis: https://docplayer.org/18760758-Funktionelles-beweglichkeitstraining-fuer-schwimmer.html