Gebrauchen, nicht missbrauchen!

Unsere Tochter ist 14 Jahre und recht weit entwickelt. Demnächst soll sie in ihr erstes Trainingslager fahren. Wie ist unser Kind vor sexueller Gewalt geschützt?[1]


[1]Der Beitrag fußt weitgehend auf der Broschüre „Gegen sexualisierte Gewalt im Sport“- http://www.dosb.de/fileadmin/fm-dosb/arbeitsfelder/dsj/sexualisierte_gewalt_rechtsfragen.pdf  DOSB 2010, seit 2022 Dialogprozess des organisierten Sports zum Schutz vor Gewalt im Sport.

„Missbrauch ist Menschen zertreten wie Gras“, Else Pannek, deutsche Lyrikerin

In Deutschland wurden in den letzten Jahren durchschnittlich 15 Tausend Kinder Opfer sexuellen Missbrauchs. Da viele Fälle nicht angezeigt werden, ist mit einer wesentlich höheren Dunkelziffer zu rechnen. Während dieses Thema in der Vergangenheit kaum öffentlich diskutiert und sogar heimlich gebilligt wurde, sah sich 2010 aufgrund „schockierender Tatsachen“ (erinnert sei an zahlreiche Fälle in der katholischen Kirche und einigen Eliteschulen) sogar die Bundesregierung veranlasst einen Runden Tisch einzurichten, um den Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexueller Gewalt nachhaltig zu verbessern. Ursachen sexuellen Missbrauchs können sowohl in der Familie selbst als auch im sozialen Umfeld liegen.  Dieses soziale Umfeld hat sich mit dem Beitritt Ihres Kindes in den Sportverein auf einen Bereich erweitert, der durch seine körperliche und emotionale Nähe den Gefahren sexualisierter Übergriffe verstärkt ausgesetzt ist. Zugleich ist der organisierte Sport interessant für potenzielle Täter. Besonders Personen mit pädophiler sexueller Orientierung suchen bewusst oder unbewusst die ehrenamtliche Mitarbeit im organisierten Sport.

Um aber Ihre Sorge nicht weiter zu befeuern, sei klargestellt, dass der regelrechte Hype an Missbrauchsprozessen der letzten Jahrzehnte und die Hysterie, mit der sich bestimmte Organisation und auch die Presse dieser Thematik zuwenden, auf etwa 0,2% aller Straftaten basieren.  So warnte auch der Präsident des Bundesgerichtshofs vor einer „Sicherheitshysterie“ und verweist auf eine zunehmende Diskrepanz zwischen gefühlter und tatsächlicher Kriminalitätsbedrohung (ZEITonline, 10.02.10).

Im Sport können folgende Faktoren sexualisierte Gewalt begünstigen:

  • nicht vermeidbarer Körperkontakt (z.B. Hilfestellung beim Erlernen des Schwimmens),
  • Badebekleidung“ und „Umziehsituationen” (z.B. Duschräume),
  • Rahmenbedingungen, zum Beispiel Fahrten zu Wettkämpfen und Trainingslagern mit Übernachtungen,
  •  abgeschirmte Situationen, in denen zum Beispiel Trainer und Sportlerinnen allein sind, (zusätzliches Einzeltraining, Auswertung einer Trainingseinheit). Durch diese abgeschirmten Situationen ohne Zeugen kann der Täter die Handlung einfach leugnen oder die „Schuld“ dem Opfer zuweisen (ACHTUNG: auch umgekehrt möglich!),
  • Abhängigkeitsverhältnis vom Trainer/Funktionär, das im Leistungssport wegen der Karrierezwänge größer ist als im Breitensport.

Aber letztlich ist auch der Sport nur ein Spiegelbild unserer Gesellschaft. So wie sexualisierte Gewalt gegen Minderjährige in unserer Gesellschaft vorkommt, so begegnet sie uns auch im Sport.

Einige rechtliche Grundlagen:

Das Sexualstrafrecht knüpft bei einzelnen Tatbeständen zum Schutz Minderjähriger an deren Alter an, weil die Fähigkeit zur sexuellen Selbstbestimmung bei jüngeren Minderjährigen mangels ausreichend ausgeprägter sittlicher und geistiger Reife in der Regel noch nicht vorhanden ist und bei älteren Minderjährigen an der Schwelle zum Erwachsenenalter von einer solchen Fähigkeit nur eingeschränkt ausgegangen werden kann. Deshalb gilt bei sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen (§ 174):  Sexuelle Handlungen zum Nachteil von Personen-

–  unter 14 Jahren (Kindern) sind stets strafbar, und zwar gleichgültig, ob diese mit ihnen einverstanden sind oder nicht.

–  unter 16 Jahren sind strafbar, wenn der Minderjährige in einem Abhängigkeitsverhältnis zum Täter steht; auch dann ist gleichgültig, ob der Minderjährige mit der sexuellen Handlung einverstanden ist oder
  nicht.

–  unter 18 Jahren sind strafbar, wenn der/die Minderjährige in einem Abhängigkeitsverhältnis zum Täter/zur Täterin steht und der Täter/die Täterin dieses Abhängigkeitsverhältnis missbraucht (z. B. der Trainer, der die Aufstellung eines minderjährigen Sportlers in einer Mannschaft davon abhängig macht, an dem Minderjährigen sexuelle Handlungen vorzunehmen); auch dann ist gleichgültig, ob der /die Minderjährige   mit der sexuellen Handlung einverstanden ist oder nicht.

–  über 18 Jahren sind strafbar, wenn sie gegen deren Willen vorgenommen werden (DOSB-Broschüre, S.10).

Grundlage dieses Sexualstraftatbestandes ist ein Obhutsverhältnis zwischen Tätern und Opfer (Mädchen oder Junge).  Das kann auch zwischen einem Trainer und den ihm anvertrauten minderjährigen Sportlern und Sportlerinnen gegeben sein, zumal wir im Leistungssport Training immer als Einheit von sportbetonter Ausbildung und Erziehung verstehen. Damit obliegt dem Trainer Recht und Pflicht, die Lebensführung der ihm anvertrauten minderjährigen Athleten und damit deren geistig-sittliche Entwicklung zu überwachen und zu leiten (in Anlehnung an §174).

Ergänzend dazu nach einigen Vorfällen im DSV: Auch eine Liebesbeziehung zwischen einem Trainer/einer Trainerin und einem minderjährigen Sportler/einer minderjährigen Sportlerin ändert grundsätzlich nichts an der Strafbarkeit.

Werden dem Verbands- oder Vereinsvorstand, Abteilungsleiter/-in oder Übungsleiter/-in sexuelle Übergriffe innerhalb des Vereins bekannt und unternehmen sie daraufhin nichts, kann diese Untätigkeit eine strafbare „Handlung“ darstellen und auch strafrechtliche Folgen nach sich ziehen

Wie ist Ihr Kind zu schützen?

Ihr Kind ist weder durch die Sittenpolizei noch durch „Wegschließen“ geschützt, sondern durch eine Kultur der Aufmerksamkeit, in dem ein Klima geschaffen wird, das Betroffene zum Reden ermutigt und potenzielle Täter/-innen abschreckt. Aber noch wichtiger ist, dem eigenen Kind „Selbstwirksamkeit“ zu vermitteln. Dazu ein Auszug aus Zeitonline:

»Ein Kind, das mit vier Jahren gelernt hat, zu sagen, ich will den blauen Pullover anziehen und nicht den roten, und das erlebt, dass diese Aussage ernst genommen wird, wird sich auch gegen unerwünschte Zudringlichkeiten wehren. Denn Pädophile haben einen Blick für Kinder, die Hilf- und Wehrlosigkeit ausstrahlen. Sie wenden keine Gewalt an, sondern treten als nette Menschen in ihr Leben. Ob als Fußballtrainer oder Chorleiter. Sie warten in Freizeitheimen und Schwimmbädern. Sie lassen sich Zeit, das Vertrauen eines Kindes zu erschleichen, sich die Defizite emotional unterversorgter Wesen zunutze zu machen. Durch Geschenke und geheuchelte Anteilnahme gewinnen sie die Arglosen für sich. Kinder, die von ihren Eltern behütet werden, ein gutes Verhältnis zu ihnen haben und über merkwürdige Vorkommnisse zu Hause offen reden können, sind deshalb deutlich weniger gefährdet.“ (Rückert et al. Die teuflische Gefahr. 16.02.10)

Ihre Sorge wird geringer sein, wenn Sie Vertrauen zum Trainer und den Personen haben können, die Ihr Kind im Trainingslager betreuen. Diese vertrauensvolle Zusammenarbeit ergibt sich zwingend aus der gemeinsamen und unteilbaren Verantwortung für die Entwicklung Ihrer Tochter als mündiges Mitglied unserer Gesellschaft.

In den letzten Jahren wurde im deutschen Sport eine Reihe von Maßnahmen ergriffen, die auf einer offenen Aussprache über Sexualität und die Gefahr sexualisierter Gewalt beruhen und damit zu einer dringend erforderlichen „Enttabuisierung“ führen.

  • Einführung von Beauftragung mit der Durchführung von Präventionsmaßnahmen zum Schutz vor sexualisierter Gewalt und der Intervention bei (Verdachts-)Fällen auf sexualisierte Gewalt,
  • Entwicklung einer Aufmerksamkeitskultur (Festlegen klarer Verhaltensleitlinien im Verein, Qualifizierung der Trainer, Helfer, Unterrichtung der Eltern, Benennung der Kinderschutzbeauftragten, regelmäßiger Austausch zw. minderjährigen Sportlern und Eltern über Umgangsformen des Trainers),
  • Thematisierung im Rahmen der Trainer Aus- und Fortbildung bis zum Mentor für Neueinsteiger,
  • Vorlage eines erweiterten Führungszeugnisses (das aber keine Garantie für die Einhaltung des Kinder- und Jugendschutzes darstellt und Sportvereine und -verbände darüber hinaus weitere Präventionsarbeit durchführen müssen), das zumindest abschreckende Wirkung für potenzielle Täter hat.

Im Verein sollte in einem Verhaltensleitfaden zum Umgang von Trainern/Helfer mit minderjährigen Sportlern folgende Inhalte geregelt und den Eltern mitgeteilt werden:

  • zum Duschen mit minderjährigen Sportlerinnen und Sportlern
  • zum Betreten der Umkleideräume
  • zur Durchführung von Freizeitveranstaltungen mit Sportlerinnen    und Sportlern außerhalb des Trainings                
  • zur Durchführung von Fördertraining mit einzelnen Sportlerinnen und Sportlern
  • zur Durchführung von Fahrten zu Wettkämpfen und Trainingslagern
  • zu Umgangsformen (Formen der Anrede, Verzicht auf sexualisierte Witze, angemessene Ansprache von Sportlerinnen und Sportlern), Austausch mit Eltern und Sportler/innen

P.S.: Bevor wir ganz in Vorschriften erstarren. Hüten wir uns vor einem „Missbrauch des Missbrauchs“. Trotz und wegen der teils hysterischen Diskussion und des Aktionismus muss auch aus erzieherischen Gründen entgegengehalten werden: Kindern nach erfolgreichem Wettkampf zu umarmen, nach Niederlagen zu trösten, ja selbst mit ihnen zu kuscheln ist bei weiten kein sexuelles Vergehen. Kinder benötigen solche Körperkontakte für eine gesunde emotionale Bilanz. Wir sollten uns hüten vor einer Atmosphäre des Verzichts auf Zärtlichkeit, Streicheln, Balgen. Lassen wir lieber die 12-Jährige vom Barren fallen aus Angst, wir könnten ja „daneben“ greifen? Die Erfahrung zeigt, wenn ein Kind zu wenige körperliche Kontakte hat, glaubt es leicht, dass es offenbar nicht besonders liebenswert ist oder verlernt, mit Nähe umzugehen. So folgert auch das 4. Forum „Gegen sexualisierte Gewalt im Sport“, dass viel eher Sexualität nicht allein im Licht der Gefahr gesehen werden sollte, denn sie spiele eine wichtige Rolle als Gesundheits- und Identitätsressource im Leben (DOSB-Presse 12/2013). Kurzum: Bei einer gesunden Vertrauensbasis – lassen Sie die Kirche im Dorf!

Mehr dazu: Konzept des DSV zur Prävention sexualisierter Gewalt (https://www.dsv.de/fileadmin/dsv/documents/dsv/service/regelwerke/2020.09.18_Konzept_zur_Pr%C3%A4vention_sexualisierter_Gewalt_im_DSV.pdf) und DOSB: https://safesport.dosb.de/

Beauftragte des DSV: Franka Weber, Korbacher Str. 93, 34132 Kassel, Email: weber@dsv.de, Telefon: 0173 2332370

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