„Wer nicht kombiniert und variiert, der stagniert“ Arturo Hotz, Sportwissenschaftler
Mit dieser Frage werden einige Probleme angesprochen:
- Zwölfjährige Schwimmer befinden sich in der Regel im Aufbautraining. Damit soll ein stabiles Fundament für spätere Höchstleistungen geschaffen werden. An den vielfältigen Leistungsvoraussetzungen sollte auch der Erfolg gemessen werden und nicht an einer einzigen Strecke. Anders gesagt: Nachwuchstraining ist Voraussetzungstraining. Und vielseitig heißt: Ausbildung in allen vier Schwimmarten einschließlich Start, Wenden und über alle Strecken, also vom Sprint bis zur Langstrecke. Eine Forcierung der Kurzstrecke würde im Interesse des augenblicklichen Erfolges dieser systematischen Grundausbildung zuwiderlaufen (s. C.05).
- Wenn schon Erwachsene und leider auch einige Trainer und Vereinsfunktionäre Probleme haben, diesen langfristigen Leistungsaufbau zu akzeptieren, dann erst recht ein Zwölfjähriger (s. B.1). Unterstellen wir einmal, dass Ihr Sohn aus eigenen Stücken zum Schwimmtraining geht und nicht nur, weil er seinen Eltern einen Gefallen tun möchte. Was treibt ihn, einige Male in der Woche bepackt wie ein Maulesel zur Schwimmhalle zu ziehen? Es sind letztlich die gleichen Ziele, die uns alle leiten:
– Kontakt zu anderen finden (hier zur Trainingsgruppe),
– Pluspunkte erheischen (hier das Lob des Trainers, eine Urkunde),
– anerkannt und geachtet zu werden (hier die Rolle in der Gruppe, Vereinsmitglied),
– sich mutig und damit gut zu fühlen (erstmals 100m Schmetterling durchgestanden zu haben. Und wenn ihr Sohn meint, über 50m Freistil schnell zu dieser Anerkennung zu gelangen, dann werden wir ihn kaum mit einem wissenschaftlichen Vortrag über den langfristigen Leistungsaufbau davon abhalten. Zumal das Ziel, das unsere Theorie begründet, in für ihn unfassbar weiter Ferne liegt. - Ihr Kind möchte für seine Anstrengungen belohnt und somit ermutigt werden, weiter „Kacheln zu zählen“. Dazu müssen aber nicht immer die gleichen „Leckerli“ herhalten, der Wettkampf, der Sieg über den anderen, die bessere Platzierung in der Bestenliste. Das ist zunächst natürlich, beobachten Sie nur einmal Kinder beim Spiel. Aber es gibt mehr Möglichkeiten sich zu messen. Wer immer nur vorn sein möchte, gerät leicht in Isolation. Haben Sie sich schon einmal dabei ertappt, dass Sie Ihr Kind beim Spiel bevorzugt gewinnen lassen, um es glücklich zu sehen und letztlich den Haussegen zu wahren? So aufgewachsen erwartet das Kind überall und immer Erster zu sein. Es verlernt mit Niederlagen umzugehen. Vielleicht polen Sie einmal die Erfolgsmöglichkeiten um, vom „Sieg über den anderen“ zum „Sieg über sich“. Und da gibt eine vielseitige Ausbildung zahlreiche Möglichkeiten: erstmals eine Serie durchhalten, den Delfinbeinschlag über die 15m durchstehen, 30 Liegestütz schaffen, 2,5 km in einer Trainingseinheit usw. Gerade das späte Schulkindalter ist eine Phase hervorragender motorischer Lernfähigkeit. Also wäre es doch verwerflich, sich nur auf eine Disziplin zu konzentrieren und nicht gerade jetzt alle Schwimmarten und noch viele Übungen an Land zu erlernen. So wird das Training noch abwechslungsreicher und freudvoller. Machen Sie ihm auch an Beispielen frühzeitiger „Wunderkinder“ im Schwimmen die geringe Nachhaltigkeit einer frühen Spezialisierung deutlich (s. C.5). Es gibt genug davon. Um Grundlagen sollte er keinen Bogen machen. Auch in der Schule lernt er täglich Dinge für „Morgen“ und weniger für „Heute“.
- Auch wenn ich mich wiederhole: Ein Weggehen von der vermutlichen Spezialstecke und die Zuwendung zu den Leistungsvoraussetzungen muss nicht mit Verzicht auf Erfolg verbunden sein. Ihr Kind geht zum Training, um sich und den anderen zu beweisen, dass es etwas kann, dazulernen möchte, für andere wichtig ist. Nach dem einfachen Motto: Ich bemühe mich, ich bin wer, also belohnt mich. Dann geben wir ihm die Chance (s. oben). Der berühmte amerikanische Psychologe und Pädagoge DREIKURS beschreibt dieses Grundbedürfnis: Der Mensch braucht Ermutigung wie die Blume das Wasser, um gut gedeihen zu können.
- Der Sport ist reich von Sprüchen wie „Als Sprinter wird man geboren“ oder „Aus einem Ackergaul macht man kein Rennpferd“. Tatsächlich unterscheidet sich der Sprinter in der Struktur der
Muskelfasern vom Langstreckler. Während sich langsame und schnelle Muskelfasern in der Normalbevölkerung etwa 50:50% verteilen, liegt der Anteil der schnellen Fasern bei Sprintern wesentlich höher. Mittels Muskelbiopsien hat man bei schwarzen 100m-Läufern einen Anteil an schnellen Muskelfasern von 70-90% ermittelt, bei keniatischen Marathonläufern waren hingegen die Verhältnisse fast umgekehrt. Nun müssen wir weder Ihren Sohn einer blutigen Muskelbiopsie unterziehen, noch nachforschen ob für Ihre Urahnen schnelles Laufen überlebenswichtig war. Wir können mit einer Reihe sportmotorischer Tests (Sprung, Sprint, Tapping, Schnellkraft usw.) den veranlagten Sprinter erkennen. Hinzu nützen dem Sprinter im Schwimmen noch lange Hebel und die entsprechende Kraft, diese schnell im Wasser zu bewegen. Aber darum geht es doch gar nicht. Wir wollen in diesem Alter weder den Sprinter noch den Langstreckler ausbilden, sondern den „Allrounder“. Deshalb haben wir zum Beispiel im DSV den Mehrkampf eingeführt (s. D.04). - In meiner Praxis als Leistungsdiagnostiker begegneten mir öfter „selbsternannte Sprinter“. Das waren Schwimmer, die für das Sprinttraining wenig geeignet waren, „sprinten“ aber toll fanden, weil sie glaubten, da brauche man nicht so hart zu arbeiten. Das mag noch stimmen, wenn man sich nur das Training im Wasser anschaut. Aber der Schwimmer trainiert heute bis zu einem Drittel und Sprinter teilweise bis zur Hälfte an Land. Und physiologisch ist schon lange bewiesen, dass eine kürzere anaerob geschwommene Strecke die Muskelzelle mehr stresst als eine längere Strecke aerob geschwommen. Das Argument, der Sprinter braucht weniger zu trainieren, zieht genau so wenig wie der Spruch „weniger ist mehr“. Kurzum: Faulheit ist kein Argument, sich für die kurze Strecke zu entscheiden.
- Mit der Kommerzialisierung des Sports spielt für die einzelnen Sportarten (Verbände) die Medienpräsenz eine zunehmende Rolle. Dabei dominiert der Unterhaltungsaspekt immer mehr über die reine Information, wie in den Sportberichterstattungen vor 2000. Zudem ist der Sport in das sich ändernde Gesellschaftssystem eingebettet. So wie der Funsport die Suchenden nach dem Kick befriedigt, so interessieren sich die Medien immer mehr für die Extreme in den bis dato klassischen Sportarten. Und das ist im Schwimmen nun einmal der Schnellste (50m) und der Ausdauerndste (10 km). Die FINA passte sich an und nahm diese Disziplinen in ihre Meisterschaften auf. Außerdem spielt bei den 50m-Strecken die Globalisierung eine weitere Rolle, da die mehr dem Leistungsvermögen vieler Schwimmer aus den Entwicklungsländern entsprach. So starteten bei den letzten Weltmeisterschaften in den 200m-Disziplinen durchschnittlich 50 Schwimmer, über 50m Freistil waren es 116.