Das optimierte Kind

Wie oft sollte ein Kind in der Kindheit trainieren?  Wenn das Kind „weniger“ als andere Kinder trainiert, weil die Eltern möchten, dass das Kind die Möglichkeit hat, mehrere Aktivitäten auszuprobieren, welche Nachteile hat das?

Immer mehr Freizeit und immer weniger freie Zeit, Paul Mommertz, deutscher Schriftsteller

Sie berühren mit Ihrer Frage zwei Problemfelder, einmal die Trainingshäufigkeit bei Kindern, zum anderen sind Sie besorgt, dass Ihrem Kind durch das Training die Möglichkeiten für weitere „Aktivitäten“ (Hobbys, Ausbildungen?) beschnitten werden.

Auf die Frage der Trainingshäufigkeit wird an andere Stelle eingegangen (s. A02, A.10) Dazu nur so viel: reicht es Ihrem Kind, 2-3x in der Woche Schwimmen zu gehen, dann kann es noch auf anderen „Hochzeiten tanzen“. Will es aber kontinuierlich seine sportlichen Leistungen verbessern und mit Gleichaltrigen konkurrieren, dann sind schon im Interesse der Chancengleichheit bestimmte Trainingsumfänge erforderlich, die von Jahr zu Jahr zunehmen. Und so werden bereits im Aufbautraining zusammen mit dem Schulunterricht Wochenbelastungen erzielt, die schnell mal über die wöchentliche Arbeitszeit der Eltern hinausgehen.

Drei Entwicklungen im letzten Jahrhundert führen bei einigen Eltern dazu, für ihre Sprösslinge frühzeitig viele Kurse zu buchen in der Annahme, sie so optimal auf das „Leben“ vorzubereiten.

  • Einmal biologisch: Kleinkinder sind viel aufnahmefähiger als früher angenommen. Das Gehirn verfügt unmittelbar nach der Geburt bereits über 100 Milliarden Nervenzellen, die durch 50 Billionen Verbindungen verknüpft sind.
  • Zum anderen sozial: Im Kampf um Arbeitsplätze bewähren sich immer mehr gutausgebildete Arbeitskräfte
  • Und letztlich veranlasste der „Pisa-Schock“ die Politik einer frühkindlichen Bildung das Wort zu reden.

Und so lernen Kleinkinder Sprachen, Gitarre spielen und Schwimmen. Die Mütter führen den Terminkalender, mutieren zu Managerinnen und schicken die Kleinen unter der Losung „Sie sollen es ja mal besser haben“ an die Bildungsfront.

Inzwischen warnen aber Psychologen und Pädagogen vor diesem Geschehen. Ihre Argumente:

  • Das Kind wird nicht gebildet, indem man wie in ein Gefäß „Bildung“ stopft, sondern es bildet sich durch die tägliche Auseinandersetzung mit der Umwelt, durch die daraus erwachsenden Erfahrungen.
  • Das Lernen sollte einen Bezug zur Lebenssituation haben und nicht „aufgepfropft“ sein. So ist zu begrüßen, wenn ein Kind im Elternhaus zweisprachig aufwächst, z.B. mit der Mutter in Englisch und mit dem Vater in Deutsch. Dem Sprachkurs für Kleinkinder fehlt die Bindung zum Alltag. Im Gegenteil, das Kind verliert die Lust am Lernen.
  • Jede Entwicklung sollte vom Kind ausgehen[1]. Wenn es Ihrem Kind Spaß macht, dann soll es Schwimmen oder Singen. Auf keinem Fall sollte die Grundlage sein „Wenn wir schon Vereinsbeitrag bezahlen, dann gehst du auch hin“.                                                                                                                                                                                                                                                                                 
                                                                                                                                                                                                                   

Wenn das Kind, wie Sie sagen, „mehrere Aktivitäten ausprobieren“ soll, dann sollte man ergründen, wozu es Lust und welche Vorstellung davon hat. Besonders kleinere Kinder wechseln schnell je nach aktuellem Vorbild, heute Fußballspieler, morgen Formel-I-Fahrer und dann wieder Popsänger. Also hüten Sie sich vor Eintagsfliegen. Ihr Kind sollte schon seit längerer Zeit interessiert sein. Was weiß es über dieses Hobby? Was wird es kosten? Können Sie es mit Ihrem Zeitplan vereinbaren? Bevor man sich festlegt, sollte man einen „Schnupperkurs“ besuchen, den viele Vereine/Arbeitsgemeinschaften anbieten.

Dabei haben Sie immer wieder zwei Richtungen zu beachten, geht es nur um einen Ausgleich zu Schule und Training oder wollen Sie eine Begabung Ihres Kindes fördern. Inwiefern Kinder mehrere Hobbys verkraften, hängt davon ab, ob sie diesen aus freien Stücken nachgehen und Spaßhaben. Hobbys können zu Stress führen, wenn dadurch der Leistungsdruck weiter erhöht wird und die Zeit für Treffen mit Freunden zu kurz kommt. Wenn der Freundeskreis immer mehr in die Trainingsgruppe „wächst“ ist ein soziales Problem gelöst.

Damit komme ich zum Kern Ihrer Frage. Nicht der Trainingsumfang ist der entscheidende Stressfaktor, sondern die Summation von Leistungsdruck, der aus nichterfüllten (zu hohen, von außen aufgesetzten) Zielen resultiert. Wenn Sie sich mit Ihrem Kind für eine leistungssportliche Karriere entschieden haben, dann zählt „mitgegangen – mitgefangen“.  Der Leistungssport lebt vom Wettbewerb und wenn Ihr Kind nur noch hinterher schwimmt, weil es weniger trainiert, wird es die Lust verlieren. Also prüfen Sie zuerst gemeinsam mit dem Trainer die Chancen Ihres Kindes und, welche Reserven es noch im Umfeld gibt. Sie sollten erkunden, warum das Training (oft auch der Trainer) auf einmal „blöd“ oder „langweilig“ ist.

Das Flattern von Ausbildung zu Ausbildung verändert die Situation oft nur kurzfristig. Dann ist nicht mehr der Schwimmtrainer „blöd“, sondern die Musiklehrerin. Bei dieser unsteten Suche nach den versteckten Talenten sollte nicht vergessen werden, dass eine Ausbildung erst einmal einer bestimmten Zeit bedarf, bevor sich Erfolge und damit Zufriedenheit einstellen. Deshalb ist mit einem Weniger zugunsten anderer Aktivitäten abzuraten.

Bevor Sie unbedingt weitere Kurse anpeilen, beachten Sie bitte, dass Kinder bis zum 13./14. Lebensjahr gern ihre Freizeit in/mit der Familie verbringen. Das ändert sich mit zunehmendem Alter. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Clique oder Peergroup. Da hiermit einige Gefahren verbunden sind, ist der Sportverein die ideale Heimstatt, um Zusammengehörigkeitsgefühl und Erfolg durch gemeinsames Handeln zu erleben.

Bevor Eltern ihr Kind total verplanen, sollten sie beachten, dass „einmal gar nichts tun“ (abhängen) ein gesunder und notwendiger Ausgleich zu den Belastungen von Schule und Sport ist. Es muss ja nicht gleich die Freizeit dominieren, was allerdings bei fast zwei Drittel der Jugendlichen zutrifft[2] . Indem ihr Kind im Verein schwimmt, verhindern Sie, dass ihr Kind vor Computer und iPod in seinem Bewegungsdrang und sozialen Kompetenzen verarmt.

Lassen Sie sich nicht vom „Förderwahn“ verrückt machen. Die Familie ist immer noch der wichtigste Lernort. Nutzen Sie ihre Kompetenzen. Trennen Sie sich auch von der Vorstellung, aus Ihrem Kind ein Wunderkind machen zu wollen und damit „ein um seine Kindheit betrogenes Kind“ (nach Marie von Ebner-Eschenbach).

Quelle: SPIEGEL vom 17.10.2011

[1] Laut UN-Konvention haben Kinder das Recht, so viel zu lernen, wie sie können. Und nicht wie die Eltern wollen.

[2] Kinder in Deutschland-Familie-Freizeit-Konsum. Politik & Unterricht. 3/2004

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