Hintergrund: Die jährlichen Verbandsbestenlisten für Kinder von 10 bis ca. 13 Jahren werden durch körperliche Ausreißer (z.B. 12-Jährige über 1,80m) angeführt. Leider orientieren sich manche Trainer/Funktionäre/ Eltern unreflektiert an der Platzierung in diesen Listen.
Ich darf bei Ihrer Fragestellung voraussetzen, dass Sie Leistung und Wettkampf als Merkmale des Leistungssports anerkennen (s. A.8). So können wir uns vordergründig der Leistungsbewertung zuwenden. Diese gestaltet sich im Schwimmen wesentlich unproblematischer als in den kompositorischen Sportarten mit ihren Punktsystemen. Im Schwimmen wird mit Startschuss begonnen und mit Anschlag beendet. Die Zeit zwischen beiden Ereignissen wird elektronisch erfasst. Äußere Störgrößen wie Wind, Wellen oder Beeinflussung durch den Gegner entfallen weitgehend. Die Kampfrichter haben ein leichtes arbeiten im Vergleich zu ihren Kollegen am Boxring oder im Eiskunstlauf. Damit sind wir einer Reihe von Problemen ledig, was uns oft gar nicht mehr bewusst ist. Lediglich eine Disqualifikation kann die Zeit „außer Kraft“ setzen, indem sie nicht im Protokoll berücksichtigt wird.
Halten wir also fest, dass die Zeiten in den Bestenlisten des DSV auf sehr zuverlässigen Füßen stehen, zumal nur offizielle Protokolle (s. Lizenzsystem) anerkannt werden. Das besagt aber nicht, dass sie auf sehr unterschiedliche Art und Weise zustande gekommen sind. Besonders im Kindesalter entscheiden neben dem Talent noch mehrere Aspekte über eine Platzierung in den Bestenlisten, so da biologisches Alter, das Trainingsalter (Trainingsumfang) und die Förderung (einschließlich Einfluss durch das Elternhaus). Jedes dieser Merkmale kann die Leistungsentwicklung frühzeitig forcieren, aber auch beenden. Damit besagt eine Platzierung in der Bestenliste nichts über die sportliche Perspektive eines 12-jährigen Schwimmers. Nehmen wir zum Beispiel die besten 12-Jährigen des DSV über 100m-Freistil aus dem Jahr 2000. 12 Jahre später, mit 24 Jahren, wäre ersichtlich, ob sie sich bis zur Nationalmannschaft durchgekämpft haben. Keiner dieser Jungen hat es geschafft. Und das ist eher die Regel als die Ausnahme.
Natürlich befriedigt es den Ehrgeiz (auch vieler Eltern), wenn der Name in den Bestenlisten oder in der Zeitung erscheint, aber das ist kein Garant für die Zukunft. Man sollte den Kindern diese Zusammenhänge so erklären, dass sie sich realistisch einordnen lernen und zugleich den Kampf um bessere Platzierungen nicht aufgeben. Das ist letztlich nichts anderes als die vielzitierte „Vorbereitung auf das Leben“.
Eine andere, sehr ernst zu nehmende Sache ist der Umgang mit den Bestenlisten durch Trainer und Funktionäre bei der Zusammenstellung von Leistungsgruppen und Förderkadern der Verbände. Da ich selbst eine altersgemäße Bestenliste erarbeitet habe [1] , habe ich dieser aus Kenntnis der Situation folgendes Vorwort hinzugefügt:
Die Leistung im Schwimmen ist das Ergebnis von Talent und Fleiß. Die großen Leistungsunterschiede sind besonders im Kindes- und Jugendalter sowohl der biologischen Entwicklung als auch dem bis dato absolvierten Training (in Einheit von Quantität und Qualität) geschuldet. Somit sind die Jahrgangsmeister nicht automatisch die Talente und ihre führende Position für die Zukunft ist nicht garantiert. Dies sollten wir uns bei der Bildung von Leistungsgruppen, Vereins-, Verbands- und Nationalmannschaften immer vor Augen halten. Wir fördern aber zumeist auf der Grundlage von Kadernormen. All dem liegen Leistungen zugrunde, die für einen bestimmten Altersabschnitt typisch sein sollten. Dazu wurden die typischen Entwicklungsverläufe von der Altersklasse Acht bis zur offenen Klasse und in einem zweiten Schritt die Abstände zum „Weltniveau“ (Mittel der ersten Zehn der ewigen Weltbestenliste) ermittelt.
Auf dieser Basis und je nach Leistungsniveau seiner Schwimmer/innen kann sich jeder Trainer für ein bestimmtes Niveau (Punktzahl) entscheiden. Je weiter er dabei in der „Leistungshierarchie“ nach „unten“ (Verein) geht, umso mehr wird die Leistung streuen. Dabei sind auch die laut WB des DSV zugelassenen Disziplinen zu beachten. Besonders im Interesse eines systematischen Leistungsaufbaus sollte im Nachwuchsbereich nie die Einzelleistung, sondern immer die Vielseitigkeit (z.B. alle vier Schwimmarten über eine Strecke) im Vordergrund stehen. Erst ab Anschlusstraining erfolgt die Spezialisierung.
Eine Leistungsauswahl sollte immer mit großer psychologisch-pädagogischer Verantwortung erfolgen. Bei Unklarheiten sollte zugunsten des Athleten entschieden werden, besonders bei biologischen Spätentwicklern oder Trainingsrückständen.
Der Mangel liegt also nicht an den Bestenlisten, sondern am Umgang mit ihnen. Bestenlisten sind ein unentbehrliches Element des Leistungssports. Ob sie motivieren oder demotivieren hängt von unserer Interpretation ab.
Abschließend ein Beispiel aus der Praxis (Mail einer besorgten Mutter):
„Hallo, wen immer es angeht!
Mit Spannung hat mein Sohn M. (9 Jahre) die Berichterstattung bezüglich der Landesmeisterschaften in der XY-Zeitung gelesen und musste mit für Eltern nur schwer auszuhaltender Enttäuschung feststellen, dass er, obwohl Landesmeister in seinem Jahrgang über 100 m Rücken, mit keinem Wort genannt wurde. Möglicherweise, aber auch nur möglicherweise ist eine Erwähnung in der Zeitung für ältere Schwimmer nicht mehr von so großer Bedeutung wie für die kleinen Schwimmer des Juniorteams. Für diese ist es aber wichtig. Daher würde ich mich freuen, wenn beim nächsten Bericht alle Schwimmer bezüglich ihrer Leistung erwähnt würden.
Vielen Dank im Voraus!“
Ich messe den Erfolg nicht an meinen Siegen, sondern daran, ob ich jedes Jahr besser werde.
Tiger Woods
[1] http://www.dsv.de/fachsparten/schwimmen/service/rudolph-punkte/