Diese Problematik bewegt tatsächlich die Gemüter, in letzter Zeit auch verstärkt die Sportwissenschaft. Dort spricht man vom Relative Age Effect (RAE). Dieser Effekt trifft zu, wenn die Geburtstage einer Gruppe nicht der Verteilung der Geburtsdaten der Normalbevölkerung entsprechen. Dazu folgendes Beispiel:
Während in Deutschland die Geburten über das Jahr annähernd gleich verteilt sind, waren 87% der Teilnehmer am Jugendmehrkampf des DSV im ersten Halbjahr geboren. Bei den jugendlichen Schwimmern war der Unterschied bereits nicht mehr signifikant. Bei Finalteilnehmer an der Weltmeisterschaft war das Verhältnis ausgewogen (Rudolph, 2010).
Zu gleichen Ergebnissen ist man auch in anderen Sportarten gelangt. Je jünger die Sportler sind, umso deutlicher ist die Wettkampfleistung vom Geburtsmonat abhängig. Sie können das als Eltern bestimmt nachvollziehen, wenn Sie sich erinnern, welche Entwicklungssprünge Ihr Kind innerhalb eines halben Jahres vollzogen hatte.
Wenn aber frühzeitig gesichtet wird, z.B. zur Aufnahme in die Leistungsgruppe des Vereins oder in eine Landesauswahl, dann bewirkt dieser RAE, dass nicht unbedingt die begabtesten Kinder gefördert werden, sondern die früher geborenen. Der REA ist vor allem in Sportarten beobachtet worden, in denen Körpergröße und Kraft eine besondere Rolle spielen, was im Schwimmen weitgehend zutrifft. Beachtet man den REA bei der Talentauswahl nicht, dann werden gegebenenfalls gering Talentierte gefördert und hoch Talentierte nicht berücksichtigt. Deshalb dürfen die Trainer bei der Zusammenstellung von Fördergruppen nicht nur vom augenblicklichen Leistungsstand ausgehen, sondern müssen das Entwicklungspotential der Sportler berücksichtigen. Das ist leichter gesagt als getan. Welcher Trainer ist nun so mutig, auf der Grundlage dieser Erkenntnis den leistungsschwächeren, aber kalendarisch jüngeren Schwimmer gegenüber dem leistungsstärkeren, aber älteren bei der Aufnahme in die Leistungsgruppe zu bevorzugen und das gegenüber Eltern und Funktionären durchzustehen? Und das alles bei der Unsicherheit, die immer noch die Talentprognose begleitet und unter dem Diktat der Kadernormen.
Dieser Vorsprung im kalendarischen Alter bewirkt auch ungleiche Chancen im Wettkampf. Es gibt zwar einige Vorschläge, diesem Dilemma zu entkommen (kleinere Altersklassen, Nachwuchsgruppen nach körperlicher Entwicklung, Rotation des Stichtages), sie sind aber wenig praktikabel und konnten sich nicht durchsetzen. Gegenüber anderen Verbänden ist der DSV bereits von der Altersgruppenstruktur (B- und A-Schüler, B- und A-Jugend) zu Jahrgangsgruppen übergegangen. Eine weitere Splittung würde die Teilnehmerfelder zu stark reduzieren und zugleich den organisatorischen Aufwand erhöhen. Zudem würde die Einführung eines variablen Stichtages (z.B. erster Wettkampftag) nichts bringen, da die Meisterschaften sich jährlich etwa zum gleichen Zeitpunkt wiederholen und so immer die gleichen Schwimmer bevorzugt würden wie beim bisherigen Vorgehen (Stichtag 31.12.).[1]
Es wäre aber möglich, Pflichtzeiten für Meisterschaften und Landeskader noch einmal nach „alt“ (erstes Halbjahr geboren) und „jung“ (zweites Halbjahr geboren) zu trennen. Da der REA aber besonders im Kindesalter eine Rolle spielt, ist er besonders von den Vereinen und Landesverbänden zu berücksichtigen. Ab Jugendalter (und damit dem Verantwortungsbereich des Dachverbandes) ist sein Einfluss nur noch gering bzw. aufgehoben. Gleichermaßen könnten aber Gruppen und Pflichtzeiten nach biologischem Alter aufgestellt werden (s. A.5.). Nicht jede Erkenntnis ist 1 zu 1 umsetzbar, sollte aber bei spezifischen Fragestellungen berücksichtigt werden.
Bei dieser Gelegenheit ist das Ergebnis einer kanadischen Studie interessant. Sie zeigte, dass bis zum Alter von 14 Jahren in der regionalen Auswahl relativ ältere Gymnastinnen dominierten, ab dem Alter von 15 Jahren waren die jüngeren überrepräsentiert (Ste-Marie et al. 2000). Gleiche Verhältnisse wurden bei Fußballern festgestellt, die von Bio-Banding sprechen. Die Autoren folgern, dass die Jüngeren (benachteiligten) bessere taktische und technische Fähigkeiten ausbilden müssen, um mit den älteren Spielern mithalten zu können (Schorer et al. 2009). Also Vorteil im Nachteil?
Übrigens:
Auch der Beginn der Schulpflicht eines Kindes ist kalendarisch gesetzlich festgelegt, bezogen auf seinen sechsten Geburtstag bis 30. Juni. Ausnahmen (sog. “Kann-Kinder”, die bis zum 30. September ihren sechsten Geburtstag haben) sind auf Antrag der Eltern möglich, wenn die Kinder den dafür erforderlichen geistigen und körperlichen Entwicklungsstand haben. Darüber entscheidet der Schulleiter, u. a. anhand der Ergebnisse der Schulaufnahmeuntersuchung. Auch hier gibt es eine ähnliche Problematik. Kinder, die auf Grund bestehender Regelungen mit ungefähr sieben anstatt mit etwa sechs Jahren eingeschult werden, ziehen daraus langfristige Vorteile. Der Reife-Vorsprung der älteren Erstklässler führt dazu, dass sie am Ende der Grundschulzeit ein deutlich besseres Leseverständnis aufweisen und mit einer höheren Wahrscheinlichkeit auf ein Gymnasium übergehen (Puhani & Weber. 2005). Der Unterschied zum Sport: das Lernen in der Schule ist kein Wettkampf (zumindest nicht offiziell), aber selektiert wird beim Übergang in die verschiedenen Schulformen ebenfalls.
Schon so manches Talent wurde von Vorschusslorbeeren erschossen
Jürgen Köditz, Schriftsteller
[1] Ein typisches Beispiel sind die jeweils für zwei Jahrgänge ausgeschriebenen JEM, wo zumeist der ältere Jahrgang die größeren Chancen hat. Aber die zunächst Jüngeren sind ein Jahr später die Älteren. Damit gleicht sich das wieder aus.