Es gibt keine Wünschelrute, die eine besondere Begabung entdeckt. Die Leistung im Schwimmen ist so komplex, dass man an einigen wenigen Merkmalen das Talent nicht ausmachen kann. Es gibt aber eine Reihe von körperbaulichen, physiologischen und psychologischen Eigenschaften, die für eine gewisse Eignung im Schwimmen sprechen. Aber wie bei einem Orchester, das Zusammenspiel muss klappen. So nutzt es wenig, wenn Ihr Kind groß (ohne Zweifel ein Vorteil im Sportschwimmen), aber motorisch unbegabt ist. Dabei ist auch immer noch zu berücksichtigen, ob die einzelnen Merkmale genetisch bedingt (veranlagt) sind oder ob, um bei der Körperhöhe zu bleiben, ein momentaner Reifeschub alles verzerrt. Eine große Rolle spielt auch das Medium, in dem sich der Schwimmer bewegt. Ich war immer wieder überrascht, wie einige Schwimmer im Strömungskanal durch das Wasser „rutschten“ als wäre der Widerstand aufgehoben, während andere unmittelbar nach dem Sprung ausgebremst wurden. Der talentierte Schwimmer findet im Wasser den „Balken“ (wissenschaftlich Widerlager), an dem er sich abdrücken kann. Der Untalentierte findet in dem Sinne keinen Halt, er „reißt“ das Wasser.
Folgen wir Edisons Spruch, wonach Genie ein Prozent Inspiration ist und neunundneunzig Prozent Transpiration, dann würde Fleiß der sicherste Garant für sportlichen Erfolg sein. Ich habe aber in meiner Trainingspraxis zu viele Schwimmer erlebt, die als „Trainingsweltmeister“ stets am sportlichen Erfolg vorbei geschrammt sind. Damit lässt sich der zweite Teil Ihrer Frage leichter beantworten. In den ersten Jahren wird manches Kind durch fleißiges Üben und Trainieren zu Erfolgen kommen. Wenn aber die Konkurrenz größer wird, sich das Kräftemessen auf die internationale Bühne verschiebt, dann reicht Fleiß allein nicht mehr aus, dann ist das Quäntchen Talent gefragt, das den Sieger ausmacht.
Talente werden allerorts gesucht, nicht nur im Sport. Und das sehr früh, denken wir nur an die Wunderkinder in der Musik. Denn nur durch eine langjährige Förderung kann sich das Talent richtig entfalten. Deshalb sind kurzfristige Maßnahmen, Momentaufnahmen zur Erfassung des Talents, kritisch zu sehen, da so oft der frühreife Schwimmer und nicht das verkannte Talent gefördert wird. Wir können mit den diversen Punktsystemen nur eine gewisse Eignung für das Sportschwimmen erkennen, zumeist den aktuellen Ausbildungsstand, mehr nicht. Das Problem der Talenterkennung liegt in der Prognostizierbarkeit, also ist der Schnellste von heute auch der der Zukunft? Wir sprechen da von Leistungsauffälligkeit. Ich konnte in zahlreichen Untersuchungen nachweisen, dass dem nicht so ist. Aber: Wir können auch nicht zu dem Umkehrschluss gelangen, man muss erst langsam, um später schnell zu schwimmen. Die Schwimmer, die sich international durchsetzten, gehörten zumeist auch in jungen Jahren zu den Leistungsstarken, aber eben nicht 1:1. Wer also jahrelang „hin und her“ geschwommen ist, fleißig war, kaum Trainingsausfälle hatte und immer noch hinterher schwimmt, der scheint wenig Talent für Schwimmen mitzubringen. Es bleibt letztlich eine einfache „Aufwand zu Nutzen-Rechnung“, aber bitte erst nach einigen Jahren, Geduld ist gefragt.
Und vergessen Sie nicht, indem im Schwimmen Leistungen von 20 Sekunden (50m) bis zu Stunden (10 km) gefordert werden, haben Athleten mit verschiedenster Muskelstruktur, Nerven- und Ausdauertypus ihre Chance. Durch Fleiß und angemessenem Umfeld kann diese Chance genutzt werden. In dem Sinne sind auch Sie ein Teil des Talents Ihres Kindes.