Freundeskreis

Unser Sohn gerät jetzt immer mehr in die „Fänge“ seines Freundeskreises. Wir befürchten, dass er die Lust am Schwimmen verliert.

Gleich gesinnt macht gute Freunde.  (Volksweisheit)

Da haben Sie nun Ihren Spross für das Schwimmen begeistert, haben Unsummen in Sportbekleidung, Schwimmanzug, Flossen, Brille, Wettkampfreisen, Trainingslager gesteckt, abgesehen davon, dass Sie ihm täglich den Tisch decken, und trotzdem haben Sie das Gefühl, dass er Ihnen langsam entgleitet. Untröstlich für manche „Glucke“, wenn das Kind plötzlich anderen Einflüssen gehorcht oder folgt. Ohne großen Tiefgang ist die Erklärung schnell gefunden, das ist eben die Rebellion der Teenys in der „Pubertät“. Dabei ist doch Ihr Einfluss besonders gefragt, wenn gegen Ende des Aufbautrainings der Belastungsumfang von Schule und Sport Ihr Kind fast rund um die Uhr beansprucht.

Im Verlaufe eines Lebens verändern sich die Rollen in der Familie und damit die gegenseitigen Erwartungen. Zunächst sind die Kinder gänzlich auf die Eltern angewiesen, nabeln sich dann immer mehr ab, bis sie ihr eigenständiges Leben führen. Im Alter erwarten dann viele Eltern einen Rollentausch, den zunehmend weniger im vollen Leben stehende „Kinder“ erfüllen (können). Aber ungeachtet der zeitlichen Belastung heutiger Familien identifizieren sich Kinder einer kontakten Eltern-Kind-Beziehung ein Leben lang mit ihren Eltern. Es ist nicht der Zeitaufwand, sondern die Innigkeit, die eine Beziehung festigt. So wäre es verfehlt anzunehmen, dass Jugendliche mit ihrem Drang nach Autonomie im Gleichschritt die emotionalen Beziehungen zu ihren Eltern aufkündigen. Auch wenn es Ihr Kind nicht so zeigt, Sie werden noch gebraucht.

Die Hintergründe des Abdriftens der Kinder sind darin begründet, wie sie sich in ihrer Entwicklung Normen und Werte zu eigen machen und zum anderen von welchen Vorbildern (Idolen) sie sich am stärksten leiten lassen.

Die Psychologen unterscheiden vier Etappen der Verhaltensregulation[1] (Internalisierung):

  • Bis zum vierten Lebensjahr sind die Kinder noch ganz dem „Hier und Jetzt“ hingegeben. Sie sind in ihrer Verhaltensregulation noch völlig fremdbestimmt. Sie versuchen ohne großen Aufwand (ohne darüber nachzudenken) schnell das Ziel zu erreichen, um belohnt und nicht bestraft zu werden, oft begleitet durch negative Erlebnisse wie Angst und Stress. Autonomie und Freiwilligkeit werden unterdrückt.
  • Das Kind akzeptiert die fremdbestimmte Beeinflussung vor allem aus Pflichtgefühl und aufgrund von Nützlichkeitserwägungen. Es handelt, „weil es sich so gehört“, um anerkannt zu werden. So übernimmt es weniger aus innerer Überzeugung, sondern mehr aus Schuld- der Schamgefühl Verhaltensmuster und Standards der Gesellschaft.
  • Das Kind verinnerlicht Werte und Einstellungen anderer Personen/Gruppen und ist von seinem Handeln überzeugt. Handlungsziele und persönliche Interessen stimmen überein und sind viel stärker durch Autonomie und „freien Willen“ geprägt.
  • Das Kind übernimmt externe Handlungsziele in das eigene Konzept. Die Handlung entspringt aus eigenem Interesse. Autonomie und Selbstbestimmtheit haben ein hohes Niveau (auch Übergang zur vorwiegend intrinsischen Motivation).

Wie ist es nun um die Interessenlage der Kinder bestellt?

Verschiedene Studien haben gezeigt, dass im Grundschulalter (Grundlagentraining) die Interessen der Kinder fast ausnahmslos durch Personen angeregt werden, von Eltern mehr als von Lehrern. Die Eltern prägen seit der Geburt Charakter als auch Intelligenz und Wertorientierung ihres Kindes. Mit dem Grundschulalter wächst der Einfluss auf dessen Lernverhalten und Leistungen, damit es die schulischen Aufgaben gut bewältigt. Etwa ab dem 10. Lebensjahr interessieren sich Kinder für ein Hobby, wobei das ganze Gerüst noch auf wackligen Füßen steht. Deshalb sollte man vorsichtig sein mit der Annahme, das wäre jetzt etwas „für‘s Leben“. In diesem Alter suchen sich die Kinder zumeist Freunde im Umfeld (Wohngegend, Schule) oder in organisierten Gruppen (Schulklasse, Trainingsgruppe). Sie fühlen sich wohl in diesen Gruppen unter Gleichen (Peer-Group) und fern elterlicher Bevormundung. Indem das Kind Gleichheit und damit Gerechtigkeit erfährt, wird es personal und sozial autonomer (BAACKE, 1999). Schulet Kinder durch Kinder, fordert Jean Paul.

Dieser Prozess verläuft kontinuierlich und ist mit zunehmender Ablösung von den Eltern verbunden. Besonders mit dem Übergang in das Jugendalter (Ende Aufbautraining) lösen sich die Kinder in ihrem Verhalten von der Familie und bauen sich ihr eigenes Leben auf. Sie fühlen sich nach wie vor zu Gruppen gleichen Alters oder Status hingezogen. Gefragt sind Freunde, denen man sich anvertrauen kann und bei denen man sich „gut aufgehoben“ fühlt. In dieser Phase steht die Suche nach der eigenen Identität im Vordergrund, verbunden mit dem Streben, an sich zu arbeiten und sich zu formen. Erst mit zunehmendem Alter können die Jugendlichen Realbild (wie man ist) und Idealbild (wie man sein möchte) stärker trennen (Dange, 2009). Das ist oft der Moment, wo sie beginnen, ihre sportliche Perspektive zu hinterfragen.

Diese Entwicklung bestimmt den Einfluss auf das Sporttreiben der Jugendlichen. Nach einer Befragung des Allensbach-Institutes bei Jugendlichen ab 16 Jahre sind das zu 56% Medien, zu 44% Freunde, zu 31% Eltern und zu 19% Lehrer. Eine Befragung bei Vereinssportlern verweist auf die führende Rolle des Trainers vor Freunden aus dem Sport und den Eltern. Danach folgen Freunde außerhalb des Sports, Sportlehrer, Spitzensportler und dann erst die Medien (Hoffmann 2008).

Erste „Idole“ des Kindes sind die „vorlebenden“ Eltern, Geschwister und Großeltern, eine liebevolle Beziehung vorausgesetzt. Wenn die Kinder mit dem Training im Schwimmen beginnen, dürften die bislang dominierenden Idole aus der Märchenwelt von Gestalten der Kinderbücher abgelöst werden, stellvertretend sei Pippi Langstrumpf genannt. Mit zunehmendem Alter entschwinden die Geister der Märchenwelt, die Hexen, Ritter, Benjamin Blümchen, Pokemons… und weichen realen Idolen aus Fleisch und Blut, Stars von Film und Fernsehen (47,5%), aus dem Sport (20%), aus der Musikszene (18,5%), aus dem privaten Umfeld (7%) und aus Büchern/Comics (4%). Dabei gibt es beträchtliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern, so finden 36% der Jungen, aber nur 4% der Mädchen ihr Idol im Sport, während sich bei Musik und Film/Fernsehen die Verhältnisse umkehren (IFAK 2010).

Auch wir kauften unserem Enkel „Kahn-Handschuhe und Trikot“. Nach einigen Spielen in seiner Altersgruppe gelangte er zu der Einsicht, dass diese Utensilien allein nicht den talentierten Torwart ausmachen. Trotzdem sind Vorbilder wichtig für den Reifeprozess der Kinder und Jugendlichen, denen sie in einer durch Verunsicherung gekennzeichneten Entwicklungsphase Sinn und Halt bieten. Deshalb sollten sie die Idole Ihres Kindes kennen, damit Sie eine Plattform für Gespräche haben, unabhängig davon, wie grausig sie die vergötterten Figuren finden. Keine Angst, mit jedem Schritt in das Erwachsenenalter entschwinden diese und werden abgelöst durch Vorbilder, die im Rahmen „politischer oder gesellschaftlicher Neu-Identifikationen“ (Bosse & Messner, 2003) als Leitbilder den eigenen Lebensentwurf mitbestimmen.


[1] Nach Krapp & Ryan, 2002: externale, introjizierte, identifizierte und integrierte Verhaltensregulation

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